Torquato Tasso (2007), Johann Wolfgang von Goethe
Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar
Fotos: Bernd Uhlig
Machst Du so Zitate?
Es spielen: Nico Delpy, Markus Fennert, Ina Piontek, Elke Wieditz, Jürg Wisbach
Bühne: Claudia Meyer, Herbert Cybulska
Kostüme: Andrea Schelling
Musik, Komposition: Wilfried Maria Danner
Video: Bahadir Hamdemir
Fassung: Claudia Meyer
Dramaturgie: Susanne Winnacker
Ein Lorbeerkranz wie eine Sonnenbrille Goethes „Torquato Tasso“
in einer großartigen Inszenierung des Deutschen Nationaltheaters Weimar
Sich auf den Torquato Tasso einzulassen, ist schon ein Wagnis. Es ist ein großes Stück, und zugleich ein Kammerspiel für nur fünf Personen, ohne jegliche Komparserie und mit einem kärglichen Ambiente. Hier muss mit Wenigem sehr viel getan werden. Der erste Blick auf das Bühnenbild im Deutschen Nationaltheater Weimar weckt eher Beklemmung: Das Geringe, das Goethe vorgeschrieben hat, ist hier noch weiter abgemagert, es setzt sich das weiße Gipswaffelmuster aus dem Zuschauerraum als Kulisse fort, sonst gibt es eine kleine Wendeltreppe, die in den Himmel führt, einen kiesbestreuten Boden und weiter gar nichts. Und wenn die erste Szene mit den beiden Leonoren anhebt, bekommt man geradezu Angst: Nicht wie bei Goethe kränzewindend bieten sie sich dar, sondern unverwandt stehend, die eine gar in Rückenansicht. Ob das den Abend tragen wird, ohne in der Deklamation zu versacken?
Es trägt; so viel steht nach fünf Minuten fest. Die Kleinheit der menschlichen Figur in dem riesigen Raum, im Zeitalter des Kinos mit seinen Nahaufnahmen vielleicht heute das größte einzelne Problem des Theaters, wird aufgefangen von der Festigkeit des Umrisses, in den die Gestalt der fünf Darsteller gebannt ist. Dass es gelingt, verdankt sich zunächst einmal der klaren Färbung und Linie der Kostüme: Leonore, die Prinzessin, anzusehen wie eine goldene Statue, Leonore, die Hofdame, im lila Glockenrock, in dem ihre schlanken Beine wie zwei Klöppel schwingen das besitzt die fokussierende Macht, um die vielen kleinen Gesten sichtbar werden zu lassen, von denen dieses Stück lebt. Ja, diese beiden dürfen mit Fug und Recht die höchst fragwürdigen Sätze von der zivilisatorischen Mission der Sitte sprechen, die Goethe ihnen in den Mund legt: Wer wissen wolle, was sich zieme, der frage getrost bei edlen Frauen nach. Ina Piontek als Prinzessin und Elke Wieditz als die andere Leonore gaben dem schwierigen Begriff des Edlen eine ironiefrei sinnliche, eine zeitgenössische Präsenz.
Es ist eine in hohem Maß anmutige Inszenierung. Auch und gerade die schlaksige Figur des Tasso hat daran Anteil, der ein wenig zerzaust und schusselig wirken darf, ohne doch das Lächerliche zu berühren. Als er sich den Lorbeerkranz vom Kopf reißt und die Haare danach wie elektrisiert zu Berge stehen, lachen ein paar Mädchen im Publikum, aber sie lachen ihn nicht aus; und so verkörpert Nico Delpy genau jenen Grad von männlicher Hilfsbedürftigkeit, dem man es abnimmt, dass Frauen durch den fürsorgenden Impuls hindurch zur Liebe gelangen.
Der Lorbeerkranz gehört zu jenen Requisiten (wenige und schmale sind es), an denen sich der feine Takt dieser Inszenierung erweist. Im Original wird er der Büste des Vergil abgenommen und Tasso aufgesetzt. Dies, die Anknüpfung an die literarische Tradition der Antike, ist ganz offenbar nicht die Seite, die der Tasso unserer Gegenwart zukehrt. In der stark und intelligent auf rund 100 Minuten gekürzten Version zieht der Fürst den Kranz wie eine Sonnenbrille aus dem Etui und klappt ihn auseinander. So gerät er leicht genug, um den Dichter nicht wie einen Pfingstochsen zu behängen, und doch so deutlich, dass er dem heimkehrenden Minister Antonio (Markus Fennert) scharf ins Auge sticht. Ums Requisit auch kristallisiert sich die entscheidende, zugleich die heikelste Szene des Stücks, wenn Tasso nach all den unendlichen Reden die Liebe der Prinzessin im physischen Handstreich erobern will und den Missgriff seines Lebens tut. Hier hat die Regie den bezwingenden Einfall, ihn plötzlich sein Kaschmirschälchen packen und der Geliebten als ein Band um die Augen schlingen zu lassen, und gleich darauf verwandelt es sich zur Leine, an dem sie sich, wenn auch nur auf einen Augenblick, beugen und führen lässt, ehe sie sich losreißt und nichts sagt als: hinweg! Hier ist, ganz im Sinn Goethes, ein Symbol geschaffen, in dem alles anschaulich wird, das Verhältnis von Blindheit und Sehen, von Liebe und Gewalt, von Verzweiflung und Hoffnung, durch den schwarzen Zügel zusammengeschlossen zur eindrücklichen Doppelfigur. Wenn sich bei Schiller alles Drama aus dem Plot entwickelt, dann bei Goethe aus den Charakteren. Sie bleiben sich stets treu und behalten ihr Recht; und das schließt das Komische und das Tragische weithin aus, so dass man sich hinterher etwas ratlos fragt: Was hat sich hier eigentlich abgespielt? Wenig; aber eben die Charaktere. Hier setzt die Regie von Claudia Meyer ihre Akzente: Sie nimmt sich als Regie zurück, sie setzt ganz und gar auf die Sprache Goethes und die Präsenz der Schauspieler. Die Hofdame Leonore darf, ohne Widerwillen zu wecken, eine noch viel größere Intrigantin sein, als man sie von der Lektüre in Erinnerung hatte, der Minister Antonio sich verkleinern bis zu dem Punkt, dass er Tasso nicht mehr als übermächtig feindliches Prinzip niederwalzt, sondern ihm neidvoll die Waage hält, man könnte fast sagen: in einem Duell zweier beleidigter Leberwürste. Der Lebendigkeit des Stücks kommt es zugute.
Vier der Charaktere haben es relativ leicht, sie dürfen sich das ganze Stück hindurch zeigen als das, was sie sind. Der Darstellerin der Prinzessin aber kommt die schwere Aufgabe zu, ihre unmögliche Liebe, und das heißt sich selbst, unausgesetzt vor den Mitspielern verbergen dem Publikum aber gerade diesen Tatbestand enthüllen zu müssen. Dass sie dies, das Zeigen des Nichtzeigens, so beherrscht und sehnsüchtig zu gestalten vermag, macht ihre schauspielerische Leistung zum herausragenden Erlebnis des Abends.
Eine alte Streitfrage ist es, welches Thema denn nun eigentlich in diesem Drama verhandelt werde. Die Inszenierung legt sich da nicht fest, sondern verlagert alles ins Persönliche der Agierenden. Es bleibt genug übrig, was die allgemeine Betrachtung lohnt. Die Details von Goethes Stellung am Weimarer Hof mögen lang vergangen sein doch der Zustand, dass man einander duzt und doch der eine der Chef ist und der andere bloß der Mitarbeiter, dass gerade die freundschaftliche Überschleierung hierarchischer Verhältnisse die peinlichsten Missverständnisse und Demütigungen zeitigt, dürfte heute eher noch weitere Verbreitung besitzen als in der Ständegesellschaft um 1800. Durch drei Zeiten, je um zwei Jahrhunderte versetzt, schneidet dieses Stück: die italienische Hochrenaissance wird zum Werk der kleinstaaterischen deutschen Klassik, und diese muss sich, genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung, vor einem heutigen Publikum bewähren.
Süddeutsche Zeitung , Burkhard Müller, 30. Januar 2007